HEV 5/1998 Inhaltsverzeichnis


  Nachbarrecht
 

       
   

Aussichtsschutz

rei. Welche Möglichkeiten stehen einem Grundeigentümer offen, wenn seine Aussicht durch die vom Nachbar gepflanzten Bäume beeinträchtigt wird? Oft wird der Wunsch nach deren Entfernung geäussert, wobei sich der Grundeigentümer in erster Linie auf die nachbarrechtliche Bestimmung von Art. 684 ZGB (Zivilgesetzbuch) stützt, nach welcher jedermann verpflichtet ist, sich bei der Ausübung seines Eigentums aller übermässigen Einwirkungen auf das Eigentum des Nachbarn zu enthalten. Eine übermässige Überschreitung des Eigentums löst die Grundeigentümerhaftung des Art. 679 aus; der durch solche Überschreitungen Geschädigte kann gegenüber dem Grundeigentümer auf Beseitigung der Schädigung oder auf Schutz gegen drohenden Schaden und auf Schadenersatz klagen.

Nach Lehre und Rechtsprechung handelt es sich bei der vom Grundeigentümer geltend gemachten Beeinträchtigung der Aussicht um eine sogenannte negative Immission. Ob Art. 684 ZGB auf derartige Tatbestände überhaupt anwendbar ist oder ob diese ausschliesslich dem in Art. 686 ZGB vorbehaltenen Privatrecht sowie dem öffentlichen Baurecht der Kantone unterstehen, ist eine viel erörterte Streitfrage.
Gegen die Anwendung von Art. 684 ZGB auf negative Immissionen werden hauptsächlich drei Argumente ins Feld geführt:

Erstens betreffe diese Bestimmung nur Einwirkungen, die von einem Grundstück ausgehen und das andere beeinträchtigen.

Zweitens stützt man sich auf die Randnote des Art. 684 ZGB («Art der Bewirtschaftung»), woraus klar hervorgehe, dass diese Bestimmung nicht von der Beschaffenheit des Grundstückes handle, sondern die Art und Weise der Benützung des Grundstückes umschreibe. Ob und wie gebaut oder gepflanzt werden dürfe, sei aber eine Frage der Beschaffenheit des Grundstückes, und diese Frage sei durch Art. 686 oder 688 ZGB der Ordnung des kantonalen Privatrechtes vorbehalten. Der Kanton Zürich hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht und in §169 ff. EGzZGB (Einführungsgesetz zum ZGB) eine mehr oder weniger abschliessende Regelung der beim Pflanzen von Bäumen und Sträuchern einzuhaltenden Grenzabstände getroffen.

Drittens würde die uneingeschränkte Subsumtion der durch die Existenz von Bauten hervorgerufenen Immissionen unter Art. 684 ZGB zu unbefriedigenden Resultaten führen, wäre es doch für den Grundeigentümer, der sein Gebäude im Vertrauen auf das kantonale Baurecht erstellt hat, unzumutbar und würde es zur Rechtsunsicherheit führen, wenn die Beseitigung der Bauten verlangt werden könnte. Bei negativen Immissionen von Bauten wäre daher nach einer Lehrmeinung aufgrund von Art. 684 ZGB nur eine Präventivklage oder, falls die Baute schon erstellt ist, ein Ausgleichsanspruch in Geld zu gewähren.

Eine andere Lehrmeinung vertritt die Ansicht, die öffentlichen und privatrechtlichen Schutzbestimmungen vor Licht-, Luft- und Aussichtsentzug seien durchaus ausreichend, so dass ein weiterer Anspruch gemäss Art. 684 ZGB gegen den Bauenden zu weit gehen würde. Dagegen will diese Lehrmeinung negative Immissionen, die von Bäumen ausgehen, nach Art. 684 ZGB beurteilt wissen, da zu berücksichtigen sei, dass die Einwirkungen, die von Pflanzen ausgehen, nicht immer die gleichen seien. Durch das Wachsen könnten die Einwirkungen ständig zunehmen, weshalb unter Umständen die kantonalrechtlichen Abstandsbestimmungen zum Schutz des Nachbarn nicht zu genügen vermöchten.

Auf jeden Fall ist eine Einwirkung im Sinne des Art. 684 ZGB nur dann widerrechtlich, wenn sie übermässig ist. Der Nachbar muss also grundsätzlich jede Einwirkung dulden, wenn sie nicht ein gewisses Mass übersteigt. Die für die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Immissionen entscheidende Intensität der Einwirkung beurteilt sich dabei nicht nach subjektiven, sondern nach objektiven Kriterien. Der Richter hat demnach eine objektive Abwägung der beidseitigen Interessen vorzunehmen. Er darf nicht auf das spezielle persönliche Empfinden des Betroffenen abstellen, sondern muss seiner Beurteilung dasjenige des normalen Durchschnittsmenschen, der sich in der gleichen Situation befindet, zugrunde legen. Objektivität bedeutet aber nicht, dass für die Frage der Übermässigkeit ein allgemeiner Massstab angelegt werden könnte. Das Gesetz verpflichtet in Art. 684 Abs. 2 ZGB ausdrücklich zur Beachtung der Lage und Beschaffenheit der Grundstücke und des Ortsgebrauches. Schon diese Momente können von Fall zu Fall ein ganz unterschiedliches Gepräge haben. Letztlich ausschlaggebend ist für die richterliche Entscheidung eben stets die konkrete Interessenlage im Einzelfall.

Eine Berufung auf Art. 2 ZGB, wonach das Stehenlassen der Bäume rechtsmissbräuchlich sei, erweist sich als nicht stichhaltig. Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn die Ausübung des Eigentumsrechts lediglich in der Absicht, den Nachbarn zu schädigen, also als Schikane, erfolgt und damit kein des Rechtsschutzes würdiger Zweck verfolgt wird. Innerhalb der Schranken des Eigentums und der allgemeinen Schranken des Art. 2 ZGB ist dagegen das Interesse des Baumeigentümers am Bestand seiner Bäume massgebend. Die Beurteilung der Richtigkeit und Zweckmässigkeit der Pflanzungen ist dem Richter entzogen. Im übrigen besteht die Vermutung eines Interesses des Baumeigentümers am Bestand der den Vorschriften über die Grenzabstände entsprechenden Bäume. Zudem ist auch hier zu beachten, dass der Gesetzgeber mit der im EGzZGB getroffenen Regelung über die Grenzabstände von Pflanzungen bereits eine Abwägung der nachbarlichen Interessen vorgenommen hat.

Ob künftig das Bundesgericht seine ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung von Art. 684 ZGB auf negative Immissionen aufgeben wird, bleibt abzuwarten. Das hat zur Folge, dass sich ein Grundeigentümer nicht unter Berufung auf Art. 684 ZGB gegen eine den kantonalen Bauvorschriften entsprechende Baute, selbst wenn ihm diese die Aussicht versperrt, zur Wehr setzen kann. Er hat sich zu diesem Zweck vorerst noch der kantonalen Rechtsbehelfe (Baueinsprache; Klage auf Beseitigung, §173 EGzZGB usw.) zu bedienen.

 
     

 

  Inhaltsverzeichnis