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Das Kapprecht *
Cornel Tanno
Das Kapprecht ist die Befugnis des Nachbarn, auf sein Grundstück
hinüberragende Äste und Wurzeln bis auf die Grenze zurück zu schneiden. Das Kapprecht ist ein
Selbsthilferecht des beeinträchtigten Nachbarn und stellt als solches eine eigentliche Ausnahme von der
übrigen Ordnung der nachbarlichen Abwehrmöglichkeiten dar. Äste und Wurzeln, die in benachbarte Grundstücke eindringen, sind mit dem Baum als Ganzes
Bestandteil des Grundstückes, auf dem der Stamm steht. Sie gehören daher mit dem Baum zusammen dem
Grundeigentümer. Das Recht zur Kappung bezieht sich nur auf Äste und Wurzeln von Pflanzen, deren Stamm
jenseits der Grundstücksgrenze steht. Wächst der Stamm hingegen genau auf der Grenze, so wird die ganze
Pflanze wie eine Grenzvorrichtung im Sinne des Gesetzes (Art. 670 ZGB) behandelt. Der Grenzbaum steht folglich im
Miteigentum der benachbarten Grundeigentümer. Die nachbarlichen Vorschriften sind auf solche Grenzpflanzen nicht
anwendbar, insbesondere nicht das Kapp- und das Anriesrecht (Recht an den an überragenden Ästen wachsenden
Früchten). Das Recht auf Kappung wird vom Erfüllen bestimmter
Voraussetzungen abhängig gemacht. Der beeinträchtigte Nachbar darf nicht ohne weiteres zur Selbsthilfe
greifen und die störenden Äste und Wurzeln einfach kappen. Dem
Besitzer der Pflanze ist vorgängig Gelegenheit zu geben, die Störung selbst zu beheben. Zu diesem Zweck muss
der beeinträchtigte Grundeigentümer eine Beschwerde an den Nachbarn richten und ihm eine angemessene Frist
zur eigenen Beseitigung der eindringenden Äste oder Wurzeln ansetzen. Die Zeitspanne soll in Tagen, Wochen oder
Monaten exakt definiert werden, damit der Verpflichtete genau weiss, bis wann er sich Zeit lassen kann. Die Dauer der
Frist ist angemessen anzusetzen, d.h. der Verpflichtete muss genügend Zeit zum Ausführen der Arbeiten haben
und zum Schutze der Pflanze nicht gezwungen werden, die Kappung während der Vegetationszeit vornehmen zu
müssen. Die Kappung sollte daher nicht zwischen Anfang März und Ende Oktober verlangt werden. Die Beschwerde selbst ist nicht an eine bestimmte Form gebunden. Aus Beweisgründen ist
jedoch zu empfehlen, die Beschwerde schriftlich abzufassen und eingeschrieben zu versenden. Einen berechtigten Anspruch auf Beseitigung von störenden Ästen oder Wurzeln hat der
Nachbar immer nur dann, wenn er durch deren Eindringen tatsächlich geschädigt wird. Unter einer
Schädigung, die vom betroffenen Nachbarn nicht geduldet werden muss, ist jede Beeinträchtigung in der
Benutzung oder Bewirtschaftung des Grundstückes zu verstehen. Als Schädigungen kommen demgemäss etwa in
Frage:
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eine starke
Beschattung |
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Feuchtigkeits- und
Lichtentzug |
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Behinderung der
Aussicht |
Sind alle Voraussetzungen zur Begründung des Kapprechts erfüllt
und ist der Pflanzenbesitzer auf die Beschwerde hin nicht fristgemäss tätig geworden, so kann der
geschädigte Nachbar zur Selbsthilfe greifen und die störenden Äste oder Wurzeln eigenhändig kappen.
Ist er sich allerdings nicht sicher, ob die Berechtigung zur Kappung tatsächlich gegeben ist, soll das Kapprecht
vorsichtshalber vorgängig gerichtlich festgestellt werden. Als Bestandteil
der Pflanze gehören die Aste und Wurzeln vor der Kappung dem Baumeigentümer. Wenn die Äste und Wurzeln
mit der Kappung von der Pflanze getrennt werden, verlieren sie die Zugehörigkeit zum Eigentum des
Pflanzeneigentümers. Derjenige, der sie gekappt hat, kann sie daher an sich nehmen. Durch die Besitzergreifung
gehen sie in sein Eigentum über. Ein Anspruch auf Entgelt für das eigene Ausführen der Kappung steht ihm
jedoch nicht zu. Da das Selbsthilferecht auf Kappung mit erheblichen
Schwierigkeiten, Kosten oder Risiken verbunden sein kann, ist es für den geschädigten Nachbarn unter
Umständen günstiger, auf dieses Recht zu verzichten und stattdessen mittels Eigentumsfreiheitsklage den
Baumeigentümer zur eigenen Beseitigung der Störung zu veranlassen.
* lic. iur., Rechtsanwalt, HEV Zürich
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